Vorwort
Kapitalismus wird heute mit allen schlimmen Dingen auf der Welt in Verbindung gebracht. Der Begriff ist zum Synonym für das Böse schlechthin geworden. Und zwar nicht nur in der politischen Religion des Antikapitalismus, sondern auch im Bewusstsein vieler Menschen. Der Kapitalismus hat nicht viele Freunde auf der Welt – und dies, obwohl er so erfolgreich war wie kein anderes Wirtschaftssystem der Menschheitsgeschichte.
Der Trick der Antikapitalisten: Sie vergleichen das reale System, in dem wir leben, mit dem Ideal einer perfekten Welt, die sie sich ausgedacht haben, die es jedoch nirgendwo gibt oder gab. Sie setzen zudem darauf, dass die Menschen wenig über Geschichte wissen und darüber, in welch ärmlichen und menschenunwürdigen Verhältnissen unsere Vorfahren lebten, bevor der Kapitalismus entstand. Und sie setzen darauf, dass die meisten Zeitgenossen in der Schulzeit fast nichts über die menschenunwürdigen Verhältnisse im Sozialismus erfahren haben.
Schließlich zeichnen sie die Zukunft in den schwärzesten Farben, wobei sie alle negativen Entwicklungen nicht etwa dem möglichen Staatsversagen, sondern immer nur einem angeblichen Marktversagen zuschreiben. Wenn man darauf hinweist, dass alle antikapitalistischen Systementwürfe ausnahmslos gescheitert sind, dann lassen die Antikapitalisten das nicht gelten: Das sei ja gar kein »wahrer« Sozialismus gewesen! Und sie insinuieren damit selbstgewiss, sie hätten nun nach über 100 Jahren das richtige Rezept gefunden, wie es das nächste Mal funktionieren kann.
Das Wirtschaftssystem des Kapitalismus beruht auf Privateigentum und Wettbewerb – die Unternehmen entscheiden, was und wie viel produziert wird. Bei dieser Entscheidung helfen ihnen die Preise, die sich am Markt bilden. Die zentrale Rolle im Kapitalismus spielen die Unternehmer, die neue Produkte entwickeln und neue Marktchancen entdecken, sowie die Konsumenten, die mit ihren individuellen Käufen letztlich über Erfolg oder Misserfolg des Unternehmers entscheiden. Kapitalismus ist Unternehmerwirtschaft – eigentlich wäre dies sogar das treffendere Wort.
Im Sozialismus dagegen dominiert das Staatseigentum und es gibt weder einen wirklichen Wettbewerb noch wirkliche Preise. Vor allem gibt es im Sozialismus kein Unternehmertum. Welche Produkte in welcher Menge produziert werden, entscheiden zentrale staatliche Planbehörden und nicht private Unternehmer.
Freilich, in dieser reinen Form existiert keines dieser Systeme irgendwo auf der Welt. Alle Systeme sind tatsächlich Mischsysteme. In sozialistischen Systemen gab und gibt es begrenztes Privateigentum und Reste von Marktwirtschaft (andernfalls wären sie viel früher zusammengebrochen). Und in kapitalistischen Ländern gibt es heute eine Menge sozialistischer und planwirtschaftlicher Bestandteile (die das Funktionieren der Marktwirtschaft oft behindern und ihre Ergebnisse entsprechend verzerren).
In meinem Buch »Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung« habe ich eine »Theorie« entwickelt, die ich heute die »Reagenzglas-Theorie« nenne – obwohl es eigentlich keine Theorie ist, sondern eher ein Bild, mit dem man historische Entwicklungen besser verstehen kann: Stellen Sie sich ein Reagenzglas vor, in dem sich die Elemente Staat und Markt, Sozialismus und Kapitalismus befinden. Und dann geben Sie in dieses Reagenzglas mehr Markt ein, so wie es die Chinesen seit den 1980er-Jahren getan haben: Das Ergebnis ist eine Abnahme der Armut und eine Zunahme des Wohlstandes. Oder Sie geben in das Reagenzglas mehr Staat ein, so wie es die Sozialisten in Venezuela seit 1999 getan haben. Das Ergebnis ist mehr Armut und weniger Wohlstand.
Überall auf der Welt herrscht dieser Kampf der Gegensätze: Markt versus Staat, Kapitalismus versus Sozialismus. Es handelt sich hier um einen dialektischen Widerspruch, und die Entwicklung eines Landes – ob nun in Richtung mehr Wohlstand oder weniger Wohlstand – hängt davon ab, wie sich das Kräfteverhältnis zwischen Markt und Staat entwickelt. Während in den 1980er- und 1990er-Jahren in vielen Ländern eine Stärkung der Marktkräfte zu beobachten war (Deng Xiaoping in China, Margaret Thatcher und Ronald Reagan in Großbritannien und den USA, Reformen in Schweden und Anfang der 2000er-Jahre in Deutschland), können wir heute in vielen Ländern beobachten, wie die andere Seite – der Staat – in diesem Kampf der Gegensätze zunehmend an Stärke gewonnen hat. Auf der Ebene der Ideen heißt dies: Antikapitalismus ist wieder verstärkt in Mode und prägt das Denken vieler Journalisten und Politiker.
In den Diskussionen, die ich in vielen Ländern zu diesem Thema geführt habe, wurden mir oft Fragen gestellt, die in dem Buch »Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung« nicht beantwortet worden waren, so etwa: Wie steht es mit der Umweltzerstörung? Oder: Gehen nicht menschliche Werte im Kapitalismus verloren, wird nicht am Ende alles dem Profitdenken geopfert? Und wie verhalten sich Demokratie und Kapitalismus? Zeigt nicht das Beispiel der USA, dass nicht die Mehrheit der Wähler, sondern das große Geld die Politik bestimmt? Und was ist mit der Schere zwischen Arm und Reich, die, wie man in Medien lesen kann, ständig weiter auseinandergeht? Und was sagen Sie zu den großen Monopolen wie Google oder Facebook, die immer mächtiger werden? Schließlich: Ist nicht der Kapitalismus für die Kriege auf dieser Welt verantwortlich und hat er nicht schlimme Diktaturen – wie etwa die Hitler-Diktatur –hervorgebracht? Die Menschen, die am Kapitalismus zweifeln oder verzweifeln, fragen schließlich: Sollte man nicht Alternativen zum Kapitalismus ausprobieren? Diesen Fragen widme ich mich in diesem Buch.
Ich argumentiere in den folgenden Kapiteln nicht theoretisch. Gegner des Kapitalismus lieben es, über Theorien zu diskutieren, weil bei solchen Diskussionen nicht so einfach zu entscheiden ist, wer recht und wer unrecht hat, und weil sie Freude daran haben, sich in die Höhen der Abstraktion aufzuschwingen. Theorien bzw. ökonomische Modelle sind für die meisten Menschen jedoch zu abstrakt und schwer verständlich. Das ist der erste Nachteil. Der zweite Nachteil, der noch schwerer wiegt: Manche Theorien sind verführerisch, weil sie mit dem übereinstimmen, was wir zu wissen glauben, mit unseren Vorurteilen über die Welt. Wenn sie in sich stimmig sind, eingängig formuliert und gut präsentiert werden und vor allem dem entsprechen, was wir sowieso zu wissen glauben, üben sie eine große Anziehungskraft aus. Ich finde es wichtiger, sich zunächst einmal darüber zu vergewissern, ob die Fakten, auf denen eine Theorie basiert, wirklich zutreffend sind. Und das ist der wunde Punkt bei den Theorien der Antikapitalisten: Sie stimmen einfach nicht mit den historischen Fakten überein, sondern nur mit unseren Vorurteilen über die Welt.
Auch manche Anhänger des Kapitalismus diskutieren gerne über ökonomische Modelle. Ich habe nichts dagegen, und solche Modelle haben ihre Berechtigung. Ich finde es jedoch zielführender, statt über Modelle über historische Fakten zu diskutieren und dann zu entscheiden, wer recht hat.
In diesem Buch gehe ich wie folgt vor: Im Teil A widme ich mich detailliert den immer wieder gegen den Kapitalismus vorgetragenen Argumenten. Im mittleren Teil B befasse ich mich mit der Frage nach Alternativen zum Kapitalismus. Dabei begründe ich, warum ich nicht viel davon halte, mich mit irgendwelchen Ideen auseinanderzusetzen, die es nur auf dem Papier gibt. Auf dem Papier sieht Sozialismus immer gut aus – außer, wenn es ein Geschichtsbuch ist.
Im dritten Teil des Buches (C) geht es darum, wie die Menschen den Kapitalismus sehen. Vielleicht haben Sie die Bücher von Steven Pinker, »Aufklärung jetzt!«, oder von Hans Rosling, »Factfulness«, gelesen. Mich haben diese Bücher fasziniert: Sie zeigen, wie sehr sich die meisten Menschen irren, wenn sie glauben, früher sei alles besser gewesen und die ganze Welt werde immer schlechter. Der Widerspruch zwischen den in Umfragen ermittelten Daten darüber, wie die meisten Menschen die Welt sehen, und den Fakten, wie die Welt wirklich aussieht, ist frappierend. Das gilt auch für das Thema Kapitalismus, bei dem die historischen und ökonomischen Fakten einerseits und die Meinungen der Menschen andererseits stark auseinanderfallen. In einem großen internationalen Projekt habe ich Menschen in 14 Ländern dazu befragen lassen, was sie über den Kapitalismus denken.
Dieses Buch dient nicht in erster Linie der Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaftlern, sondern es geht mir vor allem um die Kritik an populären Meinungen über den Kapitalismus. Gleichwohl setze ich mich in manchen Kapiteln mit den Argumenten einiger prominenter antikapitalistischer Intellektueller – wie etwa Thomas Piketty, Naomi Klein und Noam Chomsky – oder mit Büchern und Argumenten von kapitalismuskritischen Wissenschaftlern auseinander. Ich tue das vor allem dann, wenn ich glaube, dass deren Thesen inzwischen in breiteren Bevölkerungsschichten Akzeptanz gefunden haben. Dabei haben natürlich die meisten Menschen, die antikapitalistische Meinungen teilen, weder Marx noch einen der modernen Kapitalismuskritiker gelesen. Aber viele ihrer Thesen haben – vermittelt durch Medien, Universitäten und Schulen – Eingang in das allgemeine Bewusstsein gefunden und gelten sogar teilweise als gesicherte Erkenntnisse, obwohl sie zahlreiche Irrtümer enthalten.
Sie werden zudem sehen, dass manche Thesen, die scheinbar ganz neu und aktuell daherkommen (z. B. die Kritik am Konsum), tatsächlich sehr viel älter sind: Die Begründungen der Konsumkritik wechselten – mal war es die Zerstörung der Kultur, dann die angebliche »Entfremdung«, heute ist es der Klimawandel –, doch die Zielrichtung blieb stets gleich, der Kapitalismus. Die ständig wechselnden Begründungen der gleichen Thesen legen den Verdacht nahe, dass die Begründungen nicht so wichtig sind wie das eigentliche Ziel. Manche Antikapitalisten, so etwa Naomi Klein, geben sogar offen zu, dass sie sich für Themen wie den Klimawandel erst in dem Augenblick interessierten, als sie entdeckten, dass dieses Thema eine neue, wirksame Waffe im Kampf gegen den schon vorher verhassten Kapitalismus sei.
Kritiker werden mir »Einseitigkeit« vorwerfen. Das liegt einerseits daran, dass viele Fakten und Argumente in diesem Buch im Widerspruch zu allem stehen, was die meisten Menschen glauben und was in vielen Medien vermittelt wird (zum »andererseits« komme ich gleich). Daher werden Sie oft überrascht sein. Voraussetzung für die Lektüre des Buches ist eine gewisse Offenheit für Fakten, die Ihren bisherigen Meinungen möglicherweise widersprechen. Bei unserer Umfrage in Deutschland bekam von 18 Aussagen zum Kapitalismus keine so wenig Zustimmung (15 Prozent) wie die, dass der Kapitalismus in vielen Ländern die Lage der einfachen Leute verbessert hat. Dreimal so viele Befragte (45 Prozent) sind sicher, der Kapitalismus sei für Hunger und Armut auf der Welt verantwortlich. Die Zahlen, die ich im ersten Kapitel präsentiere, belegen eindeutig, dass die 15 Prozent recht und die 45 Prozent unrecht haben.
Bei Themen wie Hunger oder Armut ist jedoch eine auf Fakten basierte Diskussion sehr schwierig. Je stärker ein Thema emotional besetzt ist, umso weniger sind Menschen überhaupt bereit, Fakten zur Kenntnis zu nehmen, die ihren eigenen Meinungen widersprechen. Wissenschaftler haben das in Experimenten und Untersuchungen herausgefunden.
In zahlreichen repräsentativen Erhebungen, die Wissenschaftler in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder in ähnlicher Weise durchführten, wurde den Befragten ein Blatt mit einem Bild und einer Sprechblase vorgelegt und folgende Frage gestellt: »Ich möchte Ihnen jetzt einen Vorfall erzählen, der sich neulich bei einer Podiumsdiskussion über [dann folgten unterschiedliche Themen wie Gentechnik, Klimawandel, Kernenergie, Luftverschmutzung usw., die emotional polarisieren] ereignet hat. Experten sprachen über die Risiken und den Stand der Forschung. Plötzlich springt ein Zuhörer auf und ruft etwas in den Saal: Wenn Sie das mal bitte lesen.« Auf dem Blatt war ein Sprecher mit einer Sprechblase abgebildet, in der stand: »Was interessieren mich Zahlen und Statistiken in diesem Zusammenhang? Wie kann man überhaupt so kalt über ein Thema reden, bei dem es um das Überleben von Mensch und Natur geht?« Die Frage darunter lautete: »Würden Sie sagen, der hat recht oder nicht recht?« Diese Frage wurde über 27 Jahre in 15 repräsentativen Befragungen zu unterschiedlichen Themen, über die in der Öffentlichkeit kontrovers und emotionalisiert diskutiert wird, gestellt. Stets gab die Mehrheit dem Zwischenrufer recht, der sich nicht für Fakten interessierte. Im Durchschnitt sagten 54,8 Prozent, der faktenresistente Zwischenrufer habe recht, nur 23,4 Prozent sahen dies anders.
Hier bin ich beim »andererseits«: Ich versuche in diesem Buch nicht, künstlich eine »mittlere« Position einzunehmen oder den irrigen Meinungen vieler Menschen entgegenzukommen, wenn die Fakten eindeutig sind. Abgesehen davon: Angesichts von Hunderten Büchern, die den Kapitalismus anklagen, wäre es kein Fehler, wenn ein Buch den Kapitalismus verteidigt. In jedem Gerichtsverfahren wird dem Angeklagten ein Verteidiger zugestanden. Der Richter – und der sind in diesem Fall Sie, lieber Leser – kann sich ein Urteil bilden, wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen, auch jene, die für den Kapitalismus sprechen. Ein Verfahren, in dem es keinen Verteidiger gibt und Ankläger und Richter unter einer Decke stecken, nennt man Schauprozess. Die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus erinnert häufiger an einen Schauprozess als an ein faires Verfahren.
Sehr beeindruckt hat mich die klare und in einfachen Worten gehaltene Verteidigung der Marktwirtschaft von meinem Freund Professor Weiying Zhang, einem renommierten Ökonom der Peking-Universität. Ich habe seinen Beitrag auf den Seiten 375–398 angefügt. Lesern, die sich bislang noch nicht intensiv mit dem Thema »Kapitalismus« befasst haben, empfehle ich, dieses Kapitel vielleicht nicht am Ende, sondern am Anfang – also gleich nach diesem Vorwort – zu lesen.
Abschließend möchte ich den Wissenschaftlern und Freunden danken, die mir mit Zuspruch oder kritischen Hinweisen zu diesem Buch geholfen haben. Manche haben einzelne Kapitel gelesen, andere das ganze Manuskript. Mein Dank gebührt Prof. Jörg Baberowski, Dr. Daniel Bultmann, Prof. Jürgen W. Falter, Prof. Thomas Hecken, Dr. Christian Hiller von Gaertringen, Dr. Helmut Knepel, Prof. Eckhard Jesse, Prof. Hans Mathias Kepplinger, Prof. Wolfgang König, Dr. Gerd Kommer, Prof. Stefan Kooths, Prof. Wolfgang Michalka, Reinhard Mohr, Dr. Kristian Niemietz, Prof. Werner Plumpe, Prof. Martin Rhonheimer, Prof. Walter Scheidel, Prof. Hermann Simon, Prof. Frank Trentmann, Prof. Bernd-Jürgen Wendt, Prof. Erich Weede.
Mein besonderer Dank gilt Dr. Thomas Petersen vom Allensbach-Institut, der das Projekt über viele Monate mit großem Engagement begleitet, und meinem Freund Ansgar Graw, der das Buch wieder mit hoher Kompetenz lektoriert hat.
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